"Ich habe das Paradies Gesehen!"
So oder ähnlich war meine Stimmung nachdem die grün-weißen
Recken in Jena drei Punkte mitnahmen. Als Fußballfan ist mensch
ja einiges gewohnt: Schmerz, Trauer und Schmerz. Die Hoffnung verliert
er dabei aber nie. Und jene war es auch die mich nach Jena trieb, denn
wenn ich vernünftig gewesen wäre, dann hätte mich das Kopfkissen
noch ein paar Stunden länger beherbergen müssen.
Alles der Reihe nach. Im friends sammelten sich
tags zuvor Menschen, die dem Erscheinen des VfB-Leipzig-Fanzine bruno
derart offen eingestellt waren, dass mal eben schnell der Hütte ein
Umsatzrekord beschert wurde. Als gegen elf das Jägermeister-Team
die Bude rockte und sich die Alt-Teenager das ekelhafte Gesöff in
rauen Unmengen kostenlos heißt hemmungslos hinter
die Binde kippte, war der Abend in die richtigen Bahnen gelenkt. Einige
Zeitgenossen würden sagen: Wie früher! Um diese
spannende Saufgeschichte abzukürzen, meine Wenigkeit lag gegen fünf
rotz im Bett und was in jener Nacht so um mich herum geschah: Fragt einfach
Tiram!
So, die Karten waren gelegt, der Karter immens und die Autobesatzung
voll-zählig. In Jena angekommen, wurde der erste Bratwurststand angesteuert
und der Inhalt eines Schweinedarms nebst Hülle verputzt. Mit Ketchup,
wie immer. Der Chemie-Block war gut gefüllt. Leider auch mit recht
dubiosen Typen mensch nennt sie im Osten nationale Jugendliche
und die, die es werden wollen. Okay, das war ein subjektiver Eindruck,
keiner hatte eindeutige Aufnäher oder ähnliche Schubladen-Merkmale.
Außer die Schweine vom Bratwurststand, der neben dem Block hinter
einem Zaun aufgebaut war. Diese Volksgenossen, einer trug ein T-Shirt
mit Fortress Germania-Aufdruck, sehen wir wahrscheinlich erst
beim nächsten Naziaufmarsch in Leipzig wieder. Da können wir
denen mal sagen, dass es total doof ist mit die Anglizismen. Fortress
nö, das heißt Festung ihr Schmalzbacken. Armes Deutschland,
aber Euch kriegen wir vielleicht auch noch, scheiß Deutschland.
Gut, ich wollte ja vom Paradies schreiben und verfalle in Hasstiraden,
sorry, mein Fehler. Das Spiel war vollmundig abgerundet. Chemie wirkte
fast so, als wollten sie mitspielen und machten gut Druck. Die ersten
30 Minuten waren eher unspektakulär. Naja, wenigstens stand es null
zu null, das ist ja schon mal was, zumindest für Leute, die dem Hamburger
Ortsderby beiwohnen durften. Ich, immer noch voll im Tee, verlustierte
mich mit dem Jena-Ultra-Block, der sich direkt neben unserem Block formierte.
Es waren Jugendliche zwischen zwölf und zwanzig. Sie hatten einen
Anführer, der aus einem großen Sortiment an Fangesängen
wählen durfte. Jena-Jena oder Sprüche aus der Sparte
Alles Scheiße außer Jena und der Gegner ist asozial,
doof und ungebildet! Da es schon oft mein Traum war, der Wortbestimmer
eines Ultra-Kindergartens zu sein, nutzte ich die Gelegenheit. Soviel
vorweg, sie machten nicht wirklich mit, obwohl ich genauso Jena-Jena
oder Sachsen-Schweine anstimmen konnte wie ihr Vorsinger.
Meiner Meinung nach war das ganz schon gemein von diesen jungen Leuten,
die auch dadurch mir in Erinnerung bleiben müssen, als der erste
Ultra-Block, der im Sitzen Angst und Schrecken verbreitete.
Richten wir den schlechten Atem in Richtung Spielfeld. Da tankt sich
ein Stürmer von Chemie (Namen merken war noch nie eine Spezialität
von mir und nachschlagen werde ich an dieser Stelle auch nicht, bäh!)
durch, zieht aus einer Entfernung von 16 Metern ab und der Ball passiert
nach dreimaligen Pfostenbesuch die Torlinie. Ups, Klotz, Jubel
Übelkeit.
Die Halbzeitpause wurde zum ernsthaften Sinnieren verplant, wann denn
Chemie einbricht und ob sie zweistellig den Weg nach Leipzig antreten
müssten oder nicht. Lange Rede und Sinn groß: Der Ultra-Block
von nebenan erhob sich: 1-1 (50. Minute)! Die Prolls hinter uns hatten
es ja eh gewusst, Chemie siegt nie zumindest auswärts. Da
passte es voll ins Bild, dass der Schiri sich kurz am Arsch kratzen musste
und auf dem Rückweg noch kurzer Hand die Rote Karte gen Himmel reckte.
Der Block tobte, die Metastasen stürmten den Zaun und trotzdem spielten
nur noch zehn Leutzscher gegen den Tabellenführer. Den Versuch war
es trotzdem wert und wenn schon die Rote Karte nicht verhindert werden
konnte, dann ist wenigstens etwas Frust in den Kernbergen geblieben.
Das kann doch einen Leutzscher nicht erschüttern, keine Angst,
keine Angst Chemie siegt. 80 Minute. Sorry Torsten, aber
das war Krause-Manier. Abwurf Jena-Hüter mehr oder weniger in die
Beine eines Sachsen-Angreifers und der vollstreckt. Ups, Jubel: 2-1. Die
nächsten Minuten waren die Hölle, sollte diese Partie ein happy
end finden? Die geneigte Leserin und der spitzfindige Leser erinnert sich
an die Überschrift und denkt: Ja! Und Ihr sollt Recht behalten. Ein
Außenrist und die Murmel jubilierte ein drittes Mal hinter dem Torhüter
der Jenaer, die damit längste Zeit Tabellenanführer gewesen
waren. 3-1 für Chemie. Die Mannschaft wurde gefeiert, als wären
sie soeben Landesmeister geworden, der Trainer gab Autogramme, der Jena-Ultra-Block
erhob sich und fuhr wahlweise nach Lobeda oder Rudolstadt. Uwe Raab antworte
gegenüber einem PE-Reporter auf die Frage hin: Wie habt ihr
das gemacht Jungs? Wir haben nur an Euch gedacht, Fans.
Mensch war ich glücklich, Hoch sollen sie Leben!-Gesänge,
Chemie-Leipzig-Walzer von Chemie-Prolls dargeboten und eine Welle fabrizierende
Jena-Oma schlossen das Erlebnis. Noch einen Dank an den wachsamen Kamera-Menschen
des mdr, welcher lieber den sackkraulenden Jena-Stürmer aufzeichnete
als das 1-0 von Chemie. So bleibt dieses Tor exklusiv den Leuten vorbehalten,
die das Wunder von Jena miterlebten und noch in 50 Jahren zu berichten
wissen: Weeßt du noch, früher...
bedam
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